Niederkasseler Chemiepark verbraucht so viel Energie wie eine Großstadt

Veröffentlichung "Kölner Stadt-Anzeiger":
Die Strompreise belasten die Industrie. Hat der Chemiestandort Niederkassel-Lülsdorf mit seinen 580 Mitarbeitern, den es seit 111 Jahren gibt, eine Zukunft?

Von Cordula Orphal

Die Zahlen ähneln sich ganz zufällig: Der Niederkasseler Chemiepark, wo  vor 111 Jahren die Produktion begann, verbraucht so viel Strom wie eine Großstadt mit 111.111 Einwohnern. Hat dieses Unternehmen noch eine Zukunft im Hochpreis-Land Deutschland? Die Geschäftsführung sprach auf ihrem Empfang am Donnerstagnachmittag über Probleme und Perspektiven.

Die chemische Industrie sei energieintensiv, das sagte Rafael Reiser, einer der beiden Geschäftsführer des Werkes, das seit knapp einem Jahr zur International Chemical Investors Group (ICIG) gehört. Ohne Entlastung werde es die Branche irgendwann in Deutschland nicht mehr geben.

Kleine Strompreiserhöhung bedeutet 19 Millionen Euro Mehrkosten

Er rechnete vor, dass eine Strompreiserhöhung von nur zwei Cent pro Kilowattstunde jährliche Mehrkosten von 19 Millionen Euro bedeutet - allein für den Standort Lülsdorf. Derzeit zahle die Industrie hierzulande 17,6 Cent, Frankreich garantiere seinen Werken einen Preis von zehn Cent. Er sprach die Gäste aus Politik und Verwaltung, von Institutionen und Verbänden direkt an: „Wir brauchen Ihre Unterstützung.“

Das Werk könne einiges in die Waagschale werfen: 580 Menschen, davon 30 Auszubildende, sind hier tätig und verdienten gutes Geld, so Dr. Dirk Röttger, der zweite Geschäftsführer. Die Dienstleistungsbranche zum Beispiel habe nur halb so hohe Durchschnittsgehälter.

Lage am Rhein wichtig für Transport von Rohstoffen und Gütern

Dazu komme die Lage am Rhein, wichtig für den Transport von Rohstoffen und Gütern. Die Anbindung an Straßen und Schienen und an Pipelines, durch die zum Beispiel Stickstoff und Methanol fließen. Der Chemiepark werde auch an die geplante Waserstoffpipeline angedockt.

ICIG baue derzeit eine eigene IT und Personalabteilung auf, das Werk, zuvor eingebunden in den Großkonzern Evonik, wandle sich in ein mittelständisches Unternehmen mit stärkerer lokaler Präsenz auch bei der Industrie- und Handelskammer und dem Branchenbündnis Chem-Cologne.

Man wolle durchaus am Standort investieren, zum Beispiel in eine neue Elektrolyse. Das Eigenkapital sei da, erklärte Reiser, dem Eigentümer fehle aber eine Perspektive, die Muttergesellschaft habe auch Produktionen in Frankreich. Stichwort niedriger Industriestrompreis und politische Weichenstellung: „Wir brauchen ein Signal.“

Windenergie und Biogas seien am Ort nicht zu realisieren, sagte er auf Nachfrage einer Kommunalpolitikerin der Grünen. Photovoltaik bringe nicht genug. Die Solarpaneelen die Freiflächen zuzupflastern, das wäre der falsche Weg. „Wir wollen hier Unternehmen ansiedeln.“ Ein Teil des umzäunten Areals wird sogar noch landwirtschaftlich genutzt, das  Luftbild zeigt, das es etwa ein Drittel ist. „Da gibt es keine Altlasten.“

Der erste Vertrag mit einem neuen Ansiedler könnte Ende 2024 fix sein

Man führe schon Gespräche mit Interessenten, erklärte Michael Rötepol, Entwickler von Chemieparks wie der von Bayer. Er hoffe, dass der erste Vertrag Ende des Jahres unterzeichnet werden könne. Ziel sei es, Firmen anzusiedeln, die viel Fläche brauchen, viele Arbeitsplätze schaffen und die vorhandene Infrastruktur nutzen. Im besten Fall stehe am Ende eine Wertschöpfungskette aus einigen Firmen, deren Produktionen gut zusammenpassten.

Die Wasserstoffherstellung sei einer der künftigen Schwerpunkte, das zeichne sich ab, erläuterte Röttger. Der Wandel der Chemischen Industrie sei aber grundlegender: „Wir müssen uns vom fossilen Rohstoff Erdöl lösen.“ Er hält das Recycling für den erfolgversprechensten Weg. Immer noch würden die meisten Kunststoffe verbrannt, der Rest nur mechanisch zerkleinert und zu minderwertigem Material verarbeitet. Das chemikalische Recycling könne absehbar mehr, „da kommen neue Player“.

Optimistisch zeigte sich der Betriebsratsvorsitzende Michele Agusta, dessen Vater als Gastarbeiter 1969 im Werk anfing. Er und seine Brüder hätten hier die Ausbildung gemacht. Der neue Arbeitgeber habe alle Betriebsvereinbarungen und Versprechen eingehalten. Zum Glück sei aus der Idee einiger Industriegegner, aus dem Gelände ein Museum zu machen, nichts geworden. Es gehe voran, „aus dem Dampfer Evonik ist  das Schnellboot ICIG geworden“.

Die International Chemical Investors Group (ICIG) hat Ende Juni 2023 den Chemiepark in Lülsdorf von Evonik übernommen. Für die derzeit noch 580 Beschäftigten im Werk gelten die Tarifbedingungen weiter, bis 2032 sind betriebsbedingte Kündigungen ausgeschlossen. Hintergrund des Rückzugs von Evonik war vor allem das absehbare Ende der Produktion von Alkoholaten - Salze aus Metallkationen und Alkoholatanionen. Das Verfahren per Amalgam-Elektrolyse ist wegen Auflagen der Europäischen Union voraussichtlich ab Ende 2027 nicht mehr zulässig. Diese Produkte, die unter anderem für die Herstellung von Biodiesel und das Kunststoff-Recycling benötigt werden, stellt Evonik inzwischen an Standorten in Argentinien und den USA her. Die ICIG mit Sitz in Frankfurt und Luxemburg ist bereits in den Sparten Chlorchemie und Spezialchemie tätig. Sie hat 42 Produktionsstätten in Europa und den USA, der Umsatz liegt bei 4,5 Milliarden Euro.

Chemiepark Lülsdorf mit weitreichender Infrastruktur: Points